Lichtblicke durch Schwarzmalen
Kunst in der Beratung – kunstorientierte Beratung
Renate Lerch
Kunst in die Beratung einzubeziehen bedeutet, komplexen Anliegen von Ratsuchenden mit ebenso komplexen Zugängen und Praxen der Kunst zu begegnen. Anstatt Ursachen- und Wirkungsketten aufzudecken und den Anliegen eindeutige Logiken abzuringen, welche die Richtigkeit von Lösungsansätzen bestätigen, versucht Kunst, Kausalitäten zu überwinden und sich der Subjektivität und dem Einmaligen zu verpflichten. Sie bietet Ratsuchenden Raum für einzigartige und mehrdeutige Schöpfungen und eigensinnige Erkenntnissen daraus. Ratsuchende erfahren sich in der kunstorientierten Beratung selber als Künstler, tauchen ein in gestalterische Prozesse und stellen eigene, neue Wirkungszusammenhänge her.
Kunst wird dabei nicht zur Lösungsfindung instrumentalisiert, sondern sie wirkt durch ihre eigene Kraft und inneren Gesetzmäßigkeiten. Sie unterstützt und bestärkt Ratsuchende durch die, wie Martin Buber sagt, „Erscheinung, die an sie tritt und von ihr die wirkende Kraft erheischt Das ist der ewige Ursprung der Kunst, dass einem Menschen Gestalt gegenübertritt und durch ihn Werk werden will“. (1983, S. 10)
Künstlerisches Tun selbst weckt die Sinne und berührt Menschen in ihrem Wesen. Es erzeugt Wirklichkeiten, ist nach Heidegger „eine Weise des Seins“ und geschieht aus einer kunstanalogen Haltung heraus. „Im Werk der Kunst hat sich die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt.“ (2003, S. 21)
In der kunstorientierten Beratung wird Kunst auch als Arbeitsmethode eingesetzt. Im bewussten Umgang mit der Sprache und dem künstlerischen Tun werden produktive Synergien entwickelt. Kunsterfahrungen werden mit strukturierten Sprachfindungsprozessen verbunden.
Die Kunsterfahrungen finden in einem Kunstraum, einem „Alternativraum“, wie Paolo Knill sagt, statt. Sie werden als imaginative Spielraumerweiterungen erlebt und trennen vom Anliegen. Mit dem Eintritt in die Welt von Kunst tritt der Mensch auf eine gewisse Art aus seiner Erwachsenenwelt mit der ihr geläufigen Alltagslogik heraus in eine „alternative Wirklichkeit“. In dieser Welt wird Anderes, Neues bedeutungsvoll und bisher Wichtiges tritt zurück.“ (Knill 2005)
In gestalterischen Prozessen außerhalb der Alltagssprache erleben sich Ratsuchende selbstwirksam. Sie koordinieren ihr Tun, fällen Entscheidungen und überraschen sich mit ihren eigenen Ausdrucksweisen. Die Erzählungen der Ratsuchenden zu den Erfahrungen im Kunstraum erstaunen sie oft selbst, zum Beispiel wenn sie selbstverständlich eigene Ressourcen beschreiben und sie in Verbindung zu ihren eingebrachten Anliegen bringen.
Klaus Merz greift in seiner Kurzgeschichte „Der gestillte Blick“ die Wesenszüge der künstlerischen und Sprachfindungsprozesse auf, welche der kunstorientierten Beratung zu Grunde liegen.
Der gestillte Blick
Ein Baum, sagte die Mutter. Das Haus, sagte Vater. Die Sonne, antworteten beide, als wir mit unseren Fingern zum Himmel zeigten. Wir betraten das Erfahrungslager der Menschen, staunend. Die Pflanzen, Tiere, Dinge, die ganze, weitläufige und beängstigende Fremdheit, von der wir uns auf Erden umgeben sahen, bekamen Namen. Durch diese Bezeichnungen wurde uns die Welt immer wieder ein Stückchen greifbarer, vertrauter auch und noch auf andere Art erfahrbar als nur mit bloßen Händen. Die Welt schien uns sagbar, die Sprache stillte unseren Blick, für eine Weile. – Und diese sagbare Welt stand in klarem Gegensatz zu einer unsäglichen, einer wortlosen, sich verweigernden, feindlichen Welt. Sie setzte entschieden und in alle möglichen Himmelsrichtungen auf den Dialog.
Doch im Lauf der Zeit, als schon einiges überdacht, geredet und auch missverstanden war, stellte sich dann, sozusagen durchs Hintertürchen, erneut eine eigenartige Sehnsucht nach noch unbesprochenen, ja, eigentlich übersprachlichen Lebenszugängen und Bildern wieder ein. – Vom Wesen der Dinge, fiel mir auf, offenbaren uns Bilder ja häufig mehr als reales Vorbild, selbst da noch, wo sich „die Bildnerei“ alleiniges Thema und Gegenstand zu sein scheint. – Kunst, wenn sie etwas taugt, stellt stets neue Verbindungen her, sie vernetzt Wirklichkeiten miteinander, lotet in die drohende Leere hinab. Der unwiderlegbaren Evidenz von Träumen nicht unähnlich, die mich oft in ihren Bann zieht und wieder ans Leben anzuschließen pflegt, wenn ich den roten Faden schon fast verloren habe.
Versuche ich mir heute darüber Rechenschaft zu geben, wie es schon früh zu dieser Liebe und meinem Vertrauen, ja zu meinem Hunger nach Bildern, also nach bildender Kunst gekommen ist, so stelle ich fest, dass es mir zuallererst, ähnlich wie vor literarischen Umsetzungen, um nichts Geringeres und nichts Großartigeres als um die immer wieder neue Entdeckung und Erfindung des Alltäglichen und seiner Unerschöpflichkeit geht. Um eine lesbare Art der Nachbarlichkeit unter den Geschöpfen und Dingen, die Erweiterung des eigenen Blickfeldes durch fremde und verwandte Blicke. Um den immer wieder neuen „Augenaufgang“ vor Bildern und Texten also. – Es geht um eine lebenslange, lustvolle Seh- und Denkschule der kleinen Verschiebungen, die selbst in vorgerückterem Alter die Wiederkehr des Immergleichen noch zu würzen und zu erhellen vermag. Und manchmal sprengt.
Gleichzeitig rühren die Bilder, Artefakte generell, zumeist auch an unsere Erinnerungen, an unsere Erinnerung daran, wie es gewesen war – oder hätte sein können. Überhaupt werden im Umgang mit Kunst mehr Fragen gestellt, als Antworten zu haben sind. Und trotzdem geht es in unseren Träumen sowie beim ernsthaften Dilettieren und Agieren in Sachen Kunst stets um eine Ahnung vom Ganzen. Fast wagte ich zu sagen, um ein bisschen metaphysische Geborgenheit. Und diese Ahnung stellt sich nicht ohne Bild gewordene Gedanken und lesbares Gedenken ein. Nicht ohne den stetigen Verlust und das gleichzeitige Bergen und Aufheben von Zeit im Bild und im Wort. – Diese Ahnung vom Ganzen legt, wenn alles gut geht, eine menschenmögliche Spur Richtung Zukunft. Aus einer gelebten und geschauten Gegenwart heraus.
aus: Das Gedächtnis der Bilder. Texte zu Malerei und Fotografie, Haymon Verlag Innsbruck- Wien 2014, S. 9 – 10
Er beschreibt einen rezeptiven Gestaltungsprozess und fokussiert auf Bilder und Texte, was gut auch auf andere künstlerische Ausdruckweisen übertragbar ist.
Die zentralen Aspekte der kunstorientierten Beratung wie:
Der Text zeigt zudem auf, was der Dialog über künstlerische Erfahrungen im Beratungsgespräch zu klären und wie der gesamte Beratungsprozess Anschlüsse an die Ressourcen von Ratsuchenden zu schaffen vermag.
Unter welchen Voraussetzungen erleben sich Ratsuchende in der Beratung als Künstlerinnen und Künstler?
Als Beraterin mit kunstanaloger Haltung und kunstorientiertem Beratungsansatz betrachte ich die ästhetische Forschung als mein Handwerk, welches sich durch den künstlerischen Umgang mit den Ressourcen von Ratsuchenden auszeichnet.
Ich lege ästhetische Forschungsfelder an, in welchen sich die Ratsuchenden als Kunstschaffende erleben. Sie begegnen darin eigenen Alltagsspuren und kulturbedingten Phänomenen und sie erfahren aktive, gestalterische Auseinandersetzung und kontemplative, reflexive Verarbeitung als ineinander greifende, sich ergänzende Komponenten eines lebendigen Systems.
Vor einem Jahr konnte ich in einem Kurs mit angehenden Beratern und Beraterinnen auf meine Frage, was künstlerische Erfahrung ihnen als Ratsuchenden ermögliche, folgende Antworten zusammentragen:
„Im künstlerischen Tun …
Diese Aussagen zeigen auf, dass Kunsterfahrungen in der Beratung Echtzeiterfahrungen sind, welche unter gegebenen Bedingungen wirklichkeitserzeugend und systemerweiternd wirken. Künstlerisches Tun reichert Gewohnheiten und Bekanntes an und ermöglicht überraschende Neuordnungen. Künstlerische Werke zeigen in neuer Gestalt das Resultat erstmals anders geordneter Elemente und ungewohnter Entscheidungsschritte auf. Jürgen Kriz sagt dazu: „ Mit Kunst werden einengende, überkommene und dysfunktionale Sinnkerne der Lebenswelt aus dem Hintergrund der unhinterfragten Selbstverständlichkeiten zu einer Wahrnehmungsfigur einerseits herausgehoben und andererseits aus neuer, ungewohnter Perspektive reflektierbar gemacht Mit dem Werk wird etwas Drittes an die Seite der Ratsuchenden gestellt.“ (Kriz 2007, S. 13 – 35)
Wie werden Ratsuchende mit kunstanaloger Haltung vertraut gemacht?
Um kunstanaloge Haltungen zu entwickeln, brauchen Ratsuchende in der Beratung Raum für die Wahrnehmung ihrer eigenen Präsenz. Mit der Entscheidung zur Beratung haben sie ihre Bereitschaft, sich aktiv mit ihren Anliegen auseinanderzusetzen, schon unter Beweis gestellt. Sie sind aber nicht unbedingt auf einen Beratungsprozess eingestellt, der auf Sensibilisierung der Sinne, Erfahrungsoffenheit und künstlerische Ausdrucksweisen aufbaut. Ratsuchende müssen darum von Beginn an in eine Qualität der Anwesenheit eingeführt werden, die es ihnen erlaubt, sich ganz einzulassen und Vertrauen zu den anwesenden Personen und der Beraterin oder dem Berater aufzubauen.
Am Beispiel einer Gruppensupervision stelle ich einen möglichen Einstieg vor. Er soll exemplarisch und keinesfalls als Rezept verstanden werden.
Einstimmungen dieser Art müssen der Beratungsperson entsprechen, das heißt, sie muss darin authentisch sein, die Einstimmungen immer neu erfinden und gemeinsam mit den Ratsuchenden erleben. Wenn die Beraterin oder der Berater aus einer eigenen kunstanalogen Haltung heraus agiert und in derselben Qualität anwesend ist wie die Ratsuchenden, ist eine optimale Voraussetzung für die kunstorientierte Beratungsmethode gegeben.
Bei diesem Fallbeispiel handelt es sich um die Erstbegegnung mit einer Gruppe von 12 Erwachsenen, die Teilnehmenden kommen aus dem Bildungsbereich und kennen sich nicht. Ich begrüße die Gruppe, indem ich wortlos mit Wasser auf eine Steinplatte „guten Morgen“ pinsle und die Teilnehmenden auffordere, mit schwarzen Pinselstiften auf vier Karten, welche sie auf ihren Stühlen vorgefunden haben, im Abstand von zwei Minuten abzuzeichnen, was auf der langsam trocknenden Steinplatte noch erkennbar ist. Es folgen acht Minuten schweigende, konzentrierte Arbeit. Ich als Supervisorin beteilige mich daran.
Nach abgelaufener Zeit und dem endgültigen Abtrocknen der Steinplatte stellen sich alle in Vierergruppen ihre subjektiv wahrgenommenen, zeichenhaften Überreste der Grußworte auf ihren Karten und sich selber kurz vor. Erste erstaunte und anerkennende Bemerkungen zu den Zeichnungen in ihrer Unterschiedlichkeit werden laut, und das Interesse aneinander ist sichtbar!
Mit der kurzen, stillen Arbeit vor der Steinplatte, welche etwas zum Erscheinen und gleich wieder zum Verschwinden bringt, sind die Teilnehmenden gebannt im Hier und Jetzt anwesend. Sie steigen in die Beratung ein, indem sie einer Aufforderung zu einem Tun nachkommen, bei dem sie ganz mit sich selbst beschäftigt sind und das ihnen erste anmutende Resultate beschert. Mit den fast beiläufig entstandenen Zeugen ihrer Wahrnehmungen wird Ihre Neugier auf die weiteren Beratungsschritte geweckt und beim gegenseitigen Vorstellen das Interesse aneinander sowie das Vertrauen in einen wertschätzenden Umgang miteinander aufgebaut.
Anschließend an die Einstimmung setzen wir uns im Kreis zusammen, um die Anliegen zu sammeln und für alle sichtbar festzuhalten. Nun suchen alle Teilnehmenden nach ihrer eigenen künstlerischen Haltung, indem sie in denselben Vierergruppen das Gedicht „Lass dich fallen“ von Joseph Beuys lesen und erzählen, wo sie darin wie vorkommen bzw. was sie daraus in ihrem Leben umsetzen.
Lass dich fallen,
lerne Schlangen beobachten,
pflanze unmögliche Gärten.
Lade jemanden Gefährlichen zum Tee ein,
mache kleine Zeichen, die "Ja" sagen
und verteile sie überall in deinem Haus.
Werde ein Freund von Freiheit und Unsicherheit.
Freue dich auf Träume.
Weine bei Kinofilmen,
schaukle, so hoch du kannst mit deiner Schaukel bei Mondlicht.
Pflege verschiedene Stimmungen,
verweigere "verantwortlich zu sein", tue es aus Liebe.
Glaube an Zauberei,
lache eine Menge,
bade im Mondlicht.
Träume wilde phantasievolle Träume,
zeichne auf die Wände.
Lies jeden Tag.
Stell dir vor, du wärst verzaubert,
kichere mit Kindern,
höre alten Leuten zu.
Spiele mit allem,
unterhalte das Kind in dir, du bist unschuldig,
baue eine Burg aus Decken,
werde nass,
umarme Bäume,
schreibe Liebesbriefe.
Damit fühlen sich die Teilnehmenden auch durch Beuys Aussage „Jeder ist ein Künstler“ bestätigt. Sie erleben, wie Ratsuchende und Beraterin gemeinsam Suchende und Forschende sind, und zeigen sich bereit für ein künstlerisches Experiment.
Wie werden gelingende künstlerische Experimente gestaltet?
Künstlerische Experimente sollen bei Ratsuchenden Wohlbefinden, Zuversicht und gestalterisches Engagement auslösen. Dies wird nach Paolo Knill und Herbert Eberhart als „intermodale Dezentrierung (IDEC)“ bezeichnet (Eberhart /Knill 2009). Ratsuchende werden für einen begrenzten Zeitraum zur kunst- und spielorientierten Gestaltung eines Werkes eingeladen. Das Experiment präsentiert sich attraktiv, weist klare Strukturen auf und hat gute Chancen zu gelingen.
Paolo Knill spricht davon, Erlebnisse zu schaffen durch künstlerisches Gestalten, das sich am Prinzip des „low skills – high sensitivity“ („Low skills – high sensitivity“ meint, hoch sensibilisiert und konzentriert an niederschwelligen Aufgaben zu arbeiten) orientiert (Eberhart/Knill 2009, S. 24).
Künstlerische Experimente sollen:
Beim künstlerischen Experiment darf keinesfalls Leistungsdruck aufkommen. Vielmehr soll es als positive Selbstwirksamkeitserfahrung in Erinnerung bleiben.
Beispiel eines künstlerischen Experiments und der anschließenden Ernte
Intermodale Dezentrierung:
Die Teilnehmenden des bereits vorgestellten Beratungssettings erhalten je eine Zeitung „Zeitkunst“ mit der Aufforderung, schwarz zu malen und negativ zu sehen – eine paradoxe Intervention im Kontext der ressourcen- und lösungsorientierten Beratungsanlage. Konkret sollen sie einen bebilderten Artikelausschnitt von der Größe einer Ansichtskarte aus der Zeitung auswählen und mit einem Rahmen versehen. Darin sollen sie elf negativ besetzte Begriffe und einen Bildanteil aussparen und alles andere schwarz übermalen. Die in schwarzem Hintergrund frei gestellten Begriffe und Bildanteile wirken entgegen ihren Aussagen wie Lichtblicke. Sie bilden zusammen ästhetisch anmutende Bildkompositionen und überraschen ihre Gestalterinnen und Gestalter durch ihre Wirkung.
In einer ästhetischen Analyse beschreiben die Teilnehmenden die Bilder in ihren Details und den Entstehungsprozess derselben als lustvoll und anregend. Sie benennen Wendepunkte im Arbeitsprozess, erkennen Arbeitsstrategien, haben sich teilweise in selbstvergessenem Tun erlebt und sich über ihr Engagement in der kurzen, stark strukturierten und sehr niederschwelligen Aufgabe gewundert.
Die Werke werden aufgehängt, und mit Kurzgedichten gewürdigt, welche alle nach folgendem Auftrag zu ihren Bildern verfasst haben:
„Mit den elf ausgewählten Begriffen schreiben Sie ein Kurzgedicht nach der vorgegebenen Struktur 1 / 1-2 / 1-2-3 / 1-2-3-4 / 1. Dieses lesen Sie, zu ihren Werken stehend, vor.“
Die Kraft der Wortbilder löst allgemeines Staunen aus. Die ursprünglich negativen Begriffe erhalten in der gegebenen Struktur und mit dem Wortklang eigene Stimmungen und neuen Sinn!
Das „Schwarzmalen“ hat bunt erscheinende, spannend komponierte Bilder und das „Negativ- Sehen“ neu geordnete Wortbilder in konstruktiven Sinnzusammenhängen hervorgebracht! Die Teilnehmenden haben sich durch verschiedene künstlerische Zugänge als Künstlerinnen und Künstler erlebt. Sie haben Werke geschaffen, die sie erfreuen und erstaunen. Die sorgfältige Überführung ihres Schaffens in die Sprache hat zudem deutlich gemacht, wie sich künstlerisches Tun und Sprache bereichern können.
Ernte:
Im anschließenden Gespräch außerhalb der „Kunstraumes“ führen wir eine Diskussion zu den Fragen:
Das Gespräch ist ergiebig. Alle Anwesenden formulieren subjektive, für sie bedeutungsvolle Erkenntnisse.
Abschluss:
Wir schließen die Supervision ab mit dem Zitat von Albert Camus:
„Die Kunst ist eine in Form gebrachte Forderung nach Unmöglichem.“
(zit. nach Knischek 2009)
Dabei wird nochmals auf die enge und klare Struktur der Anlage, den gemeinsamen und sorgfältigen Sprachfindungsprozess, den großen gestalterischen Freiraum und die überraschenden Ergebnisse hingewiesen, welche für alle sichtbare Verbindungen zum Anliegen eröffnet haben.
Was kann mit künstlerischen Erfahrungen in Beratungen erreicht werden?
Die Zwillingsbrüder Frank und Patrik Riklin, zwei bekannte St. Galler Konzeptkünstler, beantworten die Frage in einem Zeitungsinterview (Die Nordwestschweiz, 3. April. 2014), indem sie folgende Aussagen zu ihrer Kunst machen:
Fazit
Kunst in der Beratung erweitert rationale Beratungszugänge mehrdimensional.
Mit dem kunstorientierten Beratungsansatz erleben Ratsuchende in gestalterischen Prozessen temporäre, alternative Wirklichkeiten. Sie machen Echtzeiterfahrungen in strukturierten Rahmen und sichern Erkenntnisse daraus in gemeinsamen Sprachfindungsprozessen mit den Beratenden.
Im künstlerischen Tun werden eingeschliffene Handlungsmuster und Denkschemata durchbrochen und bestehende Systeme verändert.
Die geschaffenen Werke sind Gegenüber und zeigen Neuordnungen und Ausdrücke sinnlicher Erfahrungen auf. Sie sind Anlass zu ästhetischen Analysen, worin Prozesse und Produkte befragt, sprachlich nochmals berührt und weiterführende Erkenntnisse gesichert werden.
Lösungsansätze resultieren aus Perspektivenwechsel und erfahrenen, begrenzten Systemveränderungen.
Lerch, Renate (2014):
Lichtblicke durch Schwarzmalen. Kunst in der Beratung – kunstorientierte Beratung, in: Melter, I. / Kanelutti-Chilas, E. / Stifter, W. (Hg.) (2014): Zukunftsfeld Bildungs- und Berufsberatung III. Wirkung – Nutzen – Sinn. wbv Media GmbH, Bielefeld, S. 167–176.
Literatur
Beuys, J.: Lass dich fallen.
Buber, M. (1983): Ich und Du. Heidelberg: Lambert Schneider
Eberhart, H.,. Knill, P. (2009): Lösungskunst. Lehrbuch der kunst- und ressourcenorientierten Arbeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Heidegger, M. (2003): Holzwege. Frankfurt am Main: Klostermann
Knill, P. (2005): Kunstorientiertes Handeln in der Begleitung von Veränderungsprozessen. Zürich: EGIS
Knischek, S. (2009): Lebensweisheiten berühmter Philosophen. Hannover: Humbolt
Kriz, J. (2007): Zur Wirkungsweise der Kunst- und Ressourcenorientierten Arbeit. In: Eberhard, H. (Hg.): Kunst wirkt. Kunstorientierte Lösungsfindung in Beratung, Therapie und Bildung. Zürich: EGIS, S. 13 – 35
Merz, K. (2014): Das Gedächtnis der Bilder. Texte zu Malerei und Fotografie. Innsbruck- Wien: Haymon Verlag
Lichtblicke durch Schwarzmalen
Kunst in der Beratung – kunstorientierte Beratung
Renate Lerch
Kunst in die Beratung einzubeziehen bedeutet, komplexen Anliegen von Ratsuchenden mit ebenso komplexen Zugängen und Praxen der Kunst zu begegnen. Anstatt Ursachen- und Wirkungsketten aufzudecken und den Anliegen eindeutige Logiken abzuringen, welche die Richtigkeit von Lösungsansätzen bestätigen, versucht Kunst, Kausalitäten zu überwinden und sich der Subjektivität und dem Einmaligen zu verpflichten. Sie bietet Ratsuchenden Raum für einzigartige und mehrdeutige Schöpfungen und eigensinnige Erkenntnissen daraus. Ratsuchende erfahren sich in der kunstorientierten Beratung selber als Künstler, tauchen ein in gestalterische Prozesse und stellen eigene, neue Wirkungszusammenhänge her.
Kunst wird dabei nicht zur Lösungsfindung instrumentalisiert, sondern sie wirkt durch ihre eigene Kraft und inneren Gesetzmäßigkeiten. Sie unterstützt und bestärkt Ratsuchende durch die, wie Martin Buber sagt, „Erscheinung, die an sie tritt und von ihr die wirkende Kraft erheischt Das ist der ewige Ursprung der Kunst, dass einem Menschen Gestalt gegenübertritt und durch ihn Werk werden will“. (1983, S. 10)
Künstlerisches Tun selbst weckt die Sinne und berührt Menschen in ihrem Wesen. Es erzeugt Wirklichkeiten, ist nach Heidegger „eine Weise des Seins“ und geschieht aus einer kunstanalogen Haltung heraus. „Im Werk der Kunst hat sich die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt.“ (2003, S. 21)
In der kunstorientierten Beratung wird Kunst auch als Arbeitsmethode eingesetzt. Im bewussten Umgang mit der Sprache und dem künstlerischen Tun werden produktive Synergien entwickelt. Kunsterfahrungen werden mit strukturierten Sprachfindungsprozessen verbunden.
Die Kunsterfahrungen finden in einem Kunstraum, einem „Alternativraum“, wie Paolo Knill sagt, statt. Sie werden als imaginative Spielraumerweiterungen erlebt und trennen vom Anliegen. Mit dem Eintritt in die Welt von Kunst tritt der Mensch auf eine gewisse Art aus seiner Erwachsenenwelt mit der ihr geläufigen Alltagslogik heraus in eine „alternative Wirklichkeit“. In dieser Welt wird Anderes, Neues bedeutungsvoll und bisher Wichtiges tritt zurück.“ (Knill 2005)
In gestalterischen Prozessen außerhalb der Alltagssprache erleben sich Ratsuchende selbstwirksam. Sie koordinieren ihr Tun, fällen Entscheidungen und überraschen sich mit ihren eigenen Ausdrucksweisen. Die Erzählungen der Ratsuchenden zu den Erfahrungen im Kunstraum erstaunen sie oft selbst, zum Beispiel wenn sie selbstverständlich eigene Ressourcen beschreiben und sie in Verbindung zu ihren eingebrachten Anliegen bringen.
Klaus Merz greift in seiner Kurzgeschichte „Der gestillte Blick“ die Wesenszüge der künstlerischen und Sprachfindungsprozesse auf, welche der kunstorientierten Beratung zu Grunde liegen.
Der gestillte Blick
Ein Baum, sagte die Mutter. Das Haus, sagte Vater. Die Sonne, antworteten beide, als wir mit unseren Fingern zum Himmel zeigten. Wir betraten das Erfahrungslager der Menschen, staunend. Die Pflanzen, Tiere, Dinge, die ganze, weitläufige und beängstigende Fremdheit, von der wir uns auf Erden umgeben sahen, bekamen Namen. Durch diese Bezeichnungen wurde uns die Welt immer wieder ein Stückchen greifbarer, vertrauter auch und noch auf andere Art erfahrbar als nur mit bloßen Händen. Die Welt schien uns sagbar, die Sprache stillte unseren Blick, für eine Weile. – Und diese sagbare Welt stand in klarem Gegensatz zu einer unsäglichen, einer wortlosen, sich verweigernden, feindlichen Welt. Sie setzte entschieden und in alle möglichen Himmelsrichtungen auf den Dialog.
Doch im Lauf der Zeit, als schon einiges überdacht, geredet und auch missverstanden war, stellte sich dann, sozusagen durchs Hintertürchen, erneut eine eigenartige Sehnsucht nach noch unbesprochenen, ja, eigentlich übersprachlichen Lebenszugängen und Bildern wieder ein. – Vom Wesen der Dinge, fiel mir auf, offenbaren uns Bilder ja häufig mehr als reales Vorbild, selbst da noch, wo sich „die Bildnerei“ alleiniges Thema und Gegenstand zu sein scheint. – Kunst, wenn sie etwas taugt, stellt stets neue Verbindungen her, sie vernetzt Wirklichkeiten miteinander, lotet in die drohende Leere hinab. Der unwiderlegbaren Evidenz von Träumen nicht unähnlich, die mich oft in ihren Bann zieht und wieder ans Leben anzuschließen pflegt, wenn ich den roten Faden schon fast verloren habe.
Versuche ich mir heute darüber Rechenschaft zu geben, wie es schon früh zu dieser Liebe und meinem Vertrauen, ja zu meinem Hunger nach Bildern, also nach bildender Kunst gekommen ist, so stelle ich fest, dass es mir zuallererst, ähnlich wie vor literarischen Umsetzungen, um nichts Geringeres und nichts Großartigeres als um die immer wieder neue Entdeckung und Erfindung des Alltäglichen und seiner Unerschöpflichkeit geht. Um eine lesbare Art der Nachbarlichkeit unter den Geschöpfen und Dingen, die Erweiterung des eigenen Blickfeldes durch fremde und verwandte Blicke. Um den immer wieder neuen „Augenaufgang“ vor Bildern und Texten also. – Es geht um eine lebenslange, lustvolle Seh- und Denkschule der kleinen Verschiebungen, die selbst in vorgerückterem Alter die Wiederkehr des Immergleichen noch zu würzen und zu erhellen vermag. Und manchmal sprengt.
Gleichzeitig rühren die Bilder, Artefakte generell, zumeist auch an unsere Erinnerungen, an unsere Erinnerung daran, wie es gewesen war – oder hätte sein können. Überhaupt werden im Umgang mit Kunst mehr Fragen gestellt, als Antworten zu haben sind. Und trotzdem geht es in unseren Träumen sowie beim ernsthaften Dilettieren und Agieren in Sachen Kunst stets um eine Ahnung vom Ganzen. Fast wagte ich zu sagen, um ein bisschen metaphysische Geborgenheit. Und diese Ahnung stellt sich nicht ohne Bild gewordene Gedanken und lesbares Gedenken ein. Nicht ohne den stetigen Verlust und das gleichzeitige Bergen und Aufheben von Zeit im Bild und im Wort. – Diese Ahnung vom Ganzen legt, wenn alles gut geht, eine menschenmögliche Spur Richtung Zukunft. Aus einer gelebten und geschauten Gegenwart heraus.
aus: Das Gedächtnis der Bilder. Texte zu Malerei und Fotografie, Haymon Verlag Innsbruck- Wien 2014, S. 9 – 10
Er beschreibt einen rezeptiven Gestaltungsprozess und fokussiert auf Bilder und Texte, was gut auch auf andere künstlerische Ausdruckweisen übertragbar ist.
Die zentralen Aspekte der kunstorientierten Beratung wie:
Der Text zeigt zudem auf, was der Dialog über künstlerische Erfahrungen im Beratungsgespräch zu klären und wie der gesamte Beratungsprozess Anschlüsse an die Ressourcen von Ratsuchenden zu schaffen vermag.
Unter welchen Voraussetzungen erleben sich Ratsuchende in der Beratung als Künstlerinnen und Künstler?
Als Beraterin mit kunstanaloger Haltung und kunstorientiertem Beratungsansatz betrachte ich die ästhetische Forschung als mein Handwerk, welches sich durch den künstlerischen Umgang mit den Ressourcen von Ratsuchenden auszeichnet.
Ich lege ästhetische Forschungsfelder an, in welchen sich die Ratsuchenden als Kunstschaffende erleben. Sie begegnen darin eigenen Alltagsspuren und kulturbedingten Phänomenen und sie erfahren aktive, gestalterische Auseinandersetzung und kontemplative, reflexive Verarbeitung als ineinander greifende, sich ergänzende Komponenten eines lebendigen Systems.
Vor einem Jahr konnte ich in einem Kurs mit angehenden Beratern und Beraterinnen auf meine Frage, was künstlerische Erfahrung ihnen als Ratsuchenden ermögliche, folgende Antworten zusammentragen:
„Im künstlerischen Tun …
Diese Aussagen zeigen auf, dass Kunsterfahrungen in der Beratung Echtzeiterfahrungen sind, welche unter gegebenen Bedingungen wirklichkeitserzeugend und systemerweiternd wirken. Künstlerisches Tun reichert Gewohnheiten und Bekanntes an und ermöglicht überraschende Neuordnungen. Künstlerische Werke zeigen in neuer Gestalt das Resultat erstmals anders geordneter Elemente und ungewohnter Entscheidungsschritte auf. Jürgen Kriz sagt dazu: „ Mit Kunst werden einengende, überkommene und dysfunktionale Sinnkerne der Lebenswelt aus dem Hintergrund der unhinterfragten Selbstverständlichkeiten zu einer Wahrnehmungsfigur einerseits herausgehoben und andererseits aus neuer, ungewohnter Perspektive reflektierbar gemacht Mit dem Werk wird etwas Drittes an die Seite der Ratsuchenden gestellt.“ (Kriz 2007, S. 13 – 35)
Wie werden Ratsuchende mit kunstanaloger Haltung vertraut gemacht?
Um kunstanaloge Haltungen zu entwickeln, brauchen Ratsuchende in der Beratung Raum für die Wahrnehmung ihrer eigenen Präsenz. Mit der Entscheidung zur Beratung haben sie ihre Bereitschaft, sich aktiv mit ihren Anliegen auseinanderzusetzen, schon unter Beweis gestellt. Sie sind aber nicht unbedingt auf einen Beratungsprozess eingestellt, der auf Sensibilisierung der Sinne, Erfahrungsoffenheit und künstlerische Ausdrucksweisen aufbaut. Ratsuchende müssen darum von Beginn an in eine Qualität der Anwesenheit eingeführt werden, die es ihnen erlaubt, sich ganz einzulassen und Vertrauen zu den anwesenden Personen und der Beraterin oder dem Berater aufzubauen.
Am Beispiel einer Gruppensupervision stelle ich einen möglichen Einstieg vor. Er soll exemplarisch und keinesfalls als Rezept verstanden werden.
Einstimmungen dieser Art müssen der Beratungsperson entsprechen, das heißt, sie muss darin authentisch sein, die Einstimmungen immer neu erfinden und gemeinsam mit den Ratsuchenden erleben. Wenn die Beraterin oder der Berater aus einer eigenen kunstanalogen Haltung heraus agiert und in derselben Qualität anwesend ist wie die Ratsuchenden, ist eine optimale Voraussetzung für die kunstorientierte Beratungsmethode gegeben.
Bei diesem Fallbeispiel handelt es sich um die Erstbegegnung mit einer Gruppe von 12 Erwachsenen, die Teilnehmenden kommen aus dem Bildungsbereich und kennen sich nicht. Ich begrüße die Gruppe, indem ich wortlos mit Wasser auf eine Steinplatte „guten Morgen“ pinsle und die Teilnehmenden auffordere, mit schwarzen Pinselstiften auf vier Karten, welche sie auf ihren Stühlen vorgefunden haben, im Abstand von zwei Minuten abzuzeichnen, was auf der langsam trocknenden Steinplatte noch erkennbar ist. Es folgen acht Minuten schweigende, konzentrierte Arbeit. Ich als Supervisorin beteilige mich daran.
Nach abgelaufener Zeit und dem endgültigen Abtrocknen der Steinplatte stellen sich alle in Vierergruppen ihre subjektiv wahrgenommenen, zeichenhaften Überreste der Grußworte auf ihren Karten und sich selber kurz vor. Erste erstaunte und anerkennende Bemerkungen zu den Zeichnungen in ihrer Unterschiedlichkeit werden laut, und das Interesse aneinander ist sichtbar!
Mit der kurzen, stillen Arbeit vor der Steinplatte, welche etwas zum Erscheinen und gleich wieder zum Verschwinden bringt, sind die Teilnehmenden gebannt im Hier und Jetzt anwesend. Sie steigen in die Beratung ein, indem sie einer Aufforderung zu einem Tun nachkommen, bei dem sie ganz mit sich selbst beschäftigt sind und das ihnen erste anmutende Resultate beschert. Mit den fast beiläufig entstandenen Zeugen ihrer Wahrnehmungen wird Ihre Neugier auf die weiteren Beratungsschritte geweckt und beim gegenseitigen Vorstellen das Interesse aneinander sowie das Vertrauen in einen wertschätzenden Umgang miteinander aufgebaut.
Anschließend an die Einstimmung setzen wir uns im Kreis zusammen, um die Anliegen zu sammeln und für alle sichtbar festzuhalten. Nun suchen alle Teilnehmenden nach ihrer eigenen künstlerischen Haltung, indem sie in denselben Vierergruppen das Gedicht „Lass dich fallen“ von Joseph Beuys lesen und erzählen, wo sie darin wie vorkommen bzw. was sie daraus in ihrem Leben umsetzen.
Lass dich fallen,
lerne Schlangen beobachten,
pflanze unmögliche Gärten.
Lade jemanden Gefährlichen zum Tee ein,
mache kleine Zeichen, die "Ja" sagen
und verteile sie überall in deinem Haus.
Werde ein Freund von Freiheit und Unsicherheit.
Freue dich auf Träume.
Weine bei Kinofilmen,
schaukle, so hoch du kannst mit deiner Schaukel bei Mondlicht.
Pflege verschiedene Stimmungen,
verweigere "verantwortlich zu sein", tue es aus Liebe.
Glaube an Zauberei,
lache eine Menge,
bade im Mondlicht.
Träume wilde phantasievolle Träume,
zeichne auf die Wände.
Lies jeden Tag.
Stell dir vor, du wärst verzaubert,
kichere mit Kindern,
höre alten Leuten zu.
Spiele mit allem,
unterhalte das Kind in dir, du bist unschuldig,
baue eine Burg aus Decken,
werde nass,
umarme Bäume,
schreibe Liebesbriefe.
Damit fühlen sich die Teilnehmenden auch durch Beuys Aussage „Jeder ist ein Künstler“ bestätigt. Sie erleben, wie Ratsuchende und Beraterin gemeinsam Suchende und Forschende sind, und zeigen sich bereit für ein künstlerisches Experiment.
Wie werden gelingende künstlerische Experimente gestaltet?
Künstlerische Experimente sollen bei Ratsuchenden Wohlbefinden, Zuversicht und gestalterisches Engagement auslösen. Dies wird nach Paolo Knill und Herbert Eberhart als „intermodale Dezentrierung (IDEC)“ bezeichnet (Eberhart /Knill 2009). Ratsuchende werden für einen begrenzten Zeitraum zur kunst- und spielorientierten Gestaltung eines Werkes eingeladen. Das Experiment präsentiert sich attraktiv, weist klare Strukturen auf und hat gute Chancen zu gelingen.
Paolo Knill spricht davon, Erlebnisse zu schaffen durch künstlerisches Gestalten, das sich am Prinzip des „low skills – high sensitivity“ („Low skills – high sensitivity“ meint, hoch sensibilisiert und konzentriert an niederschwelligen Aufgaben zu arbeiten) orientiert (Eberhart/Knill 2009, S. 24).
Künstlerische Experimente sollen:
Beim künstlerischen Experiment darf keinesfalls Leistungsdruck aufkommen. Vielmehr soll es als positive Selbstwirksamkeitserfahrung in Erinnerung bleiben.
Beispiel eines künstlerischen Experiments und der anschließenden Ernte
Intermodale Dezentrierung:
Die Teilnehmenden des bereits vorgestellten Beratungssettings erhalten je eine Zeitung „Zeitkunst“ mit der Aufforderung, schwarz zu malen und negativ zu sehen – eine paradoxe Intervention im Kontext der ressourcen- und lösungsorientierten Beratungsanlage. Konkret sollen sie einen bebilderten Artikelausschnitt von der Größe einer Ansichtskarte aus der Zeitung auswählen und mit einem Rahmen versehen. Darin sollen sie elf negativ besetzte Begriffe und einen Bildanteil aussparen und alles andere schwarz übermalen. Die in schwarzem Hintergrund frei gestellten Begriffe und Bildanteile wirken entgegen ihren Aussagen wie Lichtblicke. Sie bilden zusammen ästhetisch anmutende Bildkompositionen und überraschen ihre Gestalterinnen und Gestalter durch ihre Wirkung.
In einer ästhetischen Analyse beschreiben die Teilnehmenden die Bilder in ihren Details und den Entstehungsprozess derselben als lustvoll und anregend. Sie benennen Wendepunkte im Arbeitsprozess, erkennen Arbeitsstrategien, haben sich teilweise in selbstvergessenem Tun erlebt und sich über ihr Engagement in der kurzen, stark strukturierten und sehr niederschwelligen Aufgabe gewundert.
Die Werke werden aufgehängt, und mit Kurzgedichten gewürdigt, welche alle nach folgendem Auftrag zu ihren Bildern verfasst haben:
„Mit den elf ausgewählten Begriffen schreiben Sie ein Kurzgedicht nach der vorgegebenen Struktur 1 / 1-2 / 1-2-3 / 1-2-3-4 / 1. Dieses lesen Sie, zu ihren Werken stehend, vor.“
Die Kraft der Wortbilder löst allgemeines Staunen aus. Die ursprünglich negativen Begriffe erhalten in der gegebenen Struktur und mit dem Wortklang eigene Stimmungen und neuen Sinn!
Das „Schwarzmalen“ hat bunt erscheinende, spannend komponierte Bilder und das „Negativ- Sehen“ neu geordnete Wortbilder in konstruktiven Sinnzusammenhängen hervorgebracht! Die Teilnehmenden haben sich durch verschiedene künstlerische Zugänge als Künstlerinnen und Künstler erlebt. Sie haben Werke geschaffen, die sie erfreuen und erstaunen. Die sorgfältige Überführung ihres Schaffens in die Sprache hat zudem deutlich gemacht, wie sich künstlerisches Tun und Sprache bereichern können.
Ernte:
Im anschließenden Gespräch außerhalb der „Kunstraumes“ führen wir eine Diskussion zu den Fragen:
Das Gespräch ist ergiebig. Alle Anwesenden formulieren subjektive, für sie bedeutungsvolle Erkenntnisse.
Abschluss:
Wir schließen die Supervision ab mit dem Zitat von Albert Camus:
„Die Kunst ist eine in Form gebrachte Forderung nach Unmöglichem.“
(zit. nach Knischek 2009)
Dabei wird nochmals auf die enge und klare Struktur der Anlage, den gemeinsamen und sorgfältigen Sprachfindungsprozess, den großen gestalterischen Freiraum und die überraschenden Ergebnisse hingewiesen, welche für alle sichtbare Verbindungen zum Anliegen eröffnet haben.
Was kann mit künstlerischen Erfahrungen in Beratungen erreicht werden?
Die Zwillingsbrüder Frank und Patrik Riklin, zwei bekannte St. Galler Konzeptkünstler, beantworten die Frage in einem Zeitungsinterview (Die Nordwestschweiz, 3. April. 2014), indem sie folgende Aussagen zu ihrer Kunst machen:
Fazit
Kunst in der Beratung erweitert rationale Beratungszugänge mehrdimensional.
Mit dem kunstorientierten Beratungsansatz erleben Ratsuchende in gestalterischen Prozessen temporäre, alternative Wirklichkeiten. Sie machen Echtzeiterfahrungen in strukturierten Rahmen und sichern Erkenntnisse daraus in gemeinsamen Sprachfindungsprozessen mit den Beratenden.
Im künstlerischen Tun werden eingeschliffene Handlungsmuster und Denkschemata durchbrochen und bestehende Systeme verändert.
Die geschaffenen Werke sind Gegenüber und zeigen Neuordnungen und Ausdrücke sinnlicher Erfahrungen auf. Sie sind Anlass zu ästhetischen Analysen, worin Prozesse und Produkte befragt, sprachlich nochmals berührt und weiterführende Erkenntnisse gesichert werden.
Lösungsansätze resultieren aus Perspektivenwechsel und erfahrenen, begrenzten Systemveränderungen.
Lerch, Renate (2014):
Lichtblicke durch Schwarzmalen. Kunst in der Beratung – kunstorientierte Beratung, in: Melter, I. / Kanelutti-Chilas, E. / Stifter, W. (Hg.) (2014): Zukunftsfeld Bildungs- und Berufsberatung III. Wirkung – Nutzen – Sinn. wbv Media GmbH, Bielefeld, S. 167–176.
Literatur
Beuys, J.: Lass dich fallen.
Buber, M. (1983): Ich und Du. Heidelberg: Lambert Schneider
Eberhart, H.,. Knill, P. (2009): Lösungskunst. Lehrbuch der kunst- und ressourcenorientierten Arbeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Heidegger, M. (2003): Holzwege. Frankfurt am Main: Klostermann
Knill, P. (2005): Kunstorientiertes Handeln in der Begleitung von Veränderungsprozessen. Zürich: EGIS
Knischek, S. (2009): Lebensweisheiten berühmter Philosophen. Hannover: Humbolt
Kriz, J. (2007): Zur Wirkungsweise der Kunst- und Ressourcenorientierten Arbeit. In: Eberhard, H. (Hg.): Kunst wirkt. Kunstorientierte Lösungsfindung in Beratung, Therapie und Bildung. Zürich: EGIS, S. 13 – 35
Merz, K. (2014): Das Gedächtnis der Bilder. Texte zu Malerei und Fotografie. Innsbruck- Wien: Haymon Verlag